Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs

13.12.2022 13:19
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Wenn Bob Dylan, Literatur-Nobelpreisträger und wohl einer der bedeutendsten Songwriter, nach 20 Jahren wieder ein Buch veröffentlicht, ist naturgemäß die Aufmerksamkeit groß. Kaum ein Medium hat nicht darüber berichtet, und da sich der schön gestaltete Band auch gut als Weihnachtsgeschenk eignet, habe ich dieses Buch in meinem RUB (Regal ungelesener Bücher) nach vorne geschummelt und vorgezogen.

Was beim ersten Durchblättern auffällt, sind die Abwesenden: unter den von Dylan hier gewürdigten 66 Songs findet sich nichts von denen, die einem Normalsterblichen beim Thema „„Song“ spontan einfallen: Lennon/McCartney und Jagger/Richards glänzen ebenso durch Abwesenheit wie Ray Davies, Randy Newman, Bernie Taupin oder Bruce Springsteen. Weiters interpretiert Dylan den Begriff „modern“ recht großzügig: aus dem 21. Jahrhundert findet sich nur ein einziger Song (von Warren Zevon), ab den 1970ern wird generell die Anzahl der Beispiele dünn. Viel Country findet sich hier und auch eher exotisches wie z.B. „On the Street Where You Live“ von Loewe/Lerner aus „My Fair Lady“. Und dann ist Dylan offensichtlich der Interpret wenigstens genauso wichtig (wenn nicht wichtiger) wie der Verfasser – „Mack The Knife“ von Brecht/Weill in der Interpretation von Bobby Darin ist jedenfalls keine Wahl, die sich unmittelbar aufdrängt. Aber His Bobness tickt nun einmal anders als unsereiner.

Jedem Song werden rund 4 oder 5 Seiten gewidmet (einzig „Long Tall Sally“ von Little Richard bekommt nur eine einzige zugestanden). Meist beginnt Dylan damit, die Wirkung des Songs zu beschreiben, wobei er den Leser direkt in der zweiten Person anspricht. Er beschreibt die ausgelösten Gefühle, assoziiert kreuz und quer, kommt manchmal vom Hundertsten ins Tausendsten. Hier empfiehlt es sich, sich den Song ein- oder mehrmals anzuhören, denn es ist nicht immer leicht, Dylans Gedankensprüngen zu folgen. Im zweiten Teil des Abschnitts geht Dylan oft, aber nicht immer, auf die Hintergründe des Songs ein. Jeder Abschnitt ist mit assoziativ mit dem Lied verbundenen Bildern üppig illustriert.

Wer meint, hier eine von Meister Dylan ausformulierte Theorie des Songwriting zu finden, wird enttäuscht sein – aber Dylan war auch immer ein Meister darin, Erwartungen zu unterlaufen. Es ist auch nicht einmal klar, ob wir es hier mit Dylans Kanon zu tun haben, denn die Kriterien für die Auswahl der Songs werden nicht verraten. Was man aber bekommt, ist eine höchst eklektische Auswahl von Songs, die den eigenen musikalischen Horizont erweitern und einen schlaglichtartigen Einblick in das Denken des ewigen Enigmas Dylan. Und ein sehr hübsches Buch. Kein schlechter Deal.


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