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Thema
Paul Theroux: Burma Sahib
Thema von Oliver Herzig im Forum Zeitgenössische Literatur

am Gestern 11:371751881071

Herbst 1922. Der 19jährige Eric Blair, gerade eben mit dem Eliteschule Eton fertig geworden, schifft sich nach Rangun ein. Dort wird er der britischen Kolonialpolizei beitreten – nicht unbedingt aus Neigung, sondern um den Wünschen seines Vaters gerecht zu werden. Schon am Schiff hat er den Eindruck, am falschen Platz zu sein: mit den selbstherrlichen, großsprecherischen Passagieren, die die aus Indern und Burmesen bestehende Besatzung schlecht behandeln, kann er nichts anfangen. Und so bleibt er meist in seiner Kabine, wo er liest, seine Mahlzeiten einnimmt und sich vom Stewart Grundzüge des Hindi beibringen lässt. In Burma angekommen, verstärkt sich der Kulturschock noch: die Kolonialbeamten sind arrogant und betrachten die Burmesen als Tiere, Blair selbst wird als verwöhnter Schnösel gemobbt. Er erkennt die Perversion des Systems, in dem ein paar tausend Briten ein Millionenvolk unterdrücken – und doch: er ist selbst Teil des Systems und nimmt etliche der Privilegien in Anspruch, etwa indem er seine Haushälterinnen beinahe selbstverständlich als Mätressen nimmt. Die Widersprüche nagen an ihm und erst eine Affäre mit einer verheirateten britischen Frau, die das System vehement ablehnt, öffnet ihm endgültig die Augen. Nach mehreren Stationen und fünf Jahren kehrt Blair ernüchtert nach England zurück, quittiert den Dienst und beschließt, als Schriftsteller in Zukunft gegen soziale Ungerechtigkeit anzuschreiben.

Eric Blair hat unter seinem Pseudonym George Orwell selbst ein Buch über seine Zeit in Burma geschrieben („Tage in Burma“), nun hat der vorwiegend als Reiseschriftsteller bekannte Paul Theroux einen dicken, schönen, wunderbaren Roman über diese für Orwell prägenden Jahre vorgelegt. Theroux geht es vor allem um die Darstellung des moralischen Dilemmas, in dem sich der junge, linkische Mann befand und wie er sich schließlich daraus befreien konnte. Dabei verliert Theroux aber nie aus den Augen, seine Leser zu unterhalten: der Roman ist prall gefüllt mit farbigen Episoden, manchmal hochkomisch, an anderen Stellen wiederum tragisch und traurig, etwa wenn es um das Elend geht, in dem weite Teile der burmesischen Bevölkerung leben mussten. Es ist ein rundum gelungener Roman, der viel zum Verständnis des großen Schriftsteller und Humanisten George Orwell beiträgt und dabei blendend unterhält. Große Empfehlung!

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Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am Gestern 11:111751879468

"Schönes Wetter."

Paul Theroux: Burma Sahib

Typisch. Tolles Buch, blöder Satz .... ;-)

Thema
Oliver Rathkolb (Hg.): Kontrollierte Freiheit – Die Alliiert...
Thema von Oliver Herzig im Forum Sach- und Fachbuch

am 03.07.2025 08:221751523758

Die Besatzungszeit durch die vier alliierten Staaten ist für Wien in den politischen und wirtschaftlichen Aspekten gut erforscht und dokumentiert. Was bisher unterbelichtet blieb, ist das Kulturleben dieser Zeit. Eine Ausstellung im neuen (und exzellenten!) Wien Museum unternimmt es nun, auch diesen Bereich aufzuarbeiten. Einer der Kuratoren, der renommierte Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb, hat einen Begleitband zur Ausstellung herausgegeben, in dem in zahlreichen Beiträgen die Kulturpolitik der vier Alliierten in den 10 Jahren der Besatzungszeit beleuchtet werden.

Erstaunlich ist, wie schnell manche Teile des Kulturlebens wieder ansprangen. Nur einen Tag nach Hitlers Selbstmord, am 1. Mai 1945, spielte das Ensemble der teilweise zerstörten Staatsoper in der Volksoper Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“. Die Intention dahinter war sicherlich, die Bevölkerung von der katastrophalen Versorgungslage in der Stadt abzulenken: Lebensmittel waren knapp, zahlreiche Wohnungen waren zerstört, die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser teilweise zusammengebrochen. Doch langsam besserte sich die Lage und die vier Besatzungsmächte begannen, durch kulturelle Aktivitäten das städtische Leben anzukurbeln. Dabei stand zu Beginn die Entnazifizierung im Vordergrund, mit zunehmender Dauer der Besatzung wurde dieses Ziel jedoch durch die politische Positionierung im beginnenden Kalten Krieg ersetzt. Dabei verfolgten die vier Mächte durchaus unterschiedliche Strategien: England und Frankreich, die beiden Staaten, die aufgrund der Kriegsschäden die wenigsten Mittel zur Verfügung hatten, setzten auf die Präsentation ihres kulturellen Erbes, etwa durch Ausstellungen englischer bzw. französischer Malerei. Russland hingegen versuchte, die UdSSR als modernen, fortschrittlichen Staat, als Paradies der Arbeiter und Bauern, zu präsentieren. Obwohl etwa die Ästhetik des „sozialistischen Realismus“ dem der NS-Zeit verblüffend ähnlich war, kam er doch aufgrund der stark antikommunistisch geprägten Stimmung nicht gut an. Am meisten investierten die USA, wobei hier versucht wurde, gegen das Image der oberflächlichen, kulturfernen Nation, etwa durch Ausstellungen von Werken des abstrakten Expressionismus, anzukämpfen. Und doch: am erfolgreichsten waren die USA wohl im Bereich der Popkultur, etwa im Bereich der Musik oder des Films.

In den Beiträgen des Bandes werden die verschiedensten Aspekte des Kulturlebens beleuchtet, von Zeitungen über die bildende Kunst, Theater, Oper, Literatur und Bibliotheken bis zum Sport. Dabei wird auch so manche denkwürdige Episode dokumentiert. So veranstalteten die USA 1952 ein Gastspiel eines rein schwarzen Ensembles mit Gershwins „Porgy and Bess“ an der Volksoper. Nach der Premierenfeier zog das Ensemble in das Avantgarde-Lokal „Strohkoffer“ weiter, wo Cab Calloway (bekannt aus dem Film „Blues Brothers“) seinen Signature-Song „Minnie the Moocher“ zum besten gab – am Klavier begleitet vom jungen Friedrich Gulda. In Summe ein nicht nur für Österreicher hochinteressanter, reich bebilderter Reader!

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Literaturrätsel # 1081
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Literaturrätsel # 1081

am 03.07.2025 07:251751520339

Danke für den Hinweis, denn Machens Great God Pan steht schon länger auf meiner To-do-Liste. Allerdings tendiere ich hier eher zum englischen Original (und ein Blick in Richtung RUB rät mir davon ab ;-)
Ein neues Rätsel muss ich mir erst aus dem hitzegeplagten Hirn leiern ...

Thema
Rie Qudan: Tokyo Sympathy Tower
Thema von Oliver Herzig im Forum Zeitgenössische Literatur

am 01.07.2025 13:451751370321

Die Architektin Sara Makina quartiert sich in einem Hotel in Tokio ein. Sie will sich durch die Aussicht auf den geplanten Bauplatz Inspirationen holen für einen Wettbewerb, an dem ihr Büro teilnimmt. Denn hier, in der Nähe des Olympiastadions (gebaut nach den Plänen von Zaha Hadid, die in Wirklichkeit nicht umgesetzt wurden), soll ein Gefängnis entstehen. Aber kein gewöhnliches Gefängnis: aufbauend auf den Theorien des Philosophen Masaki Seko, der Verbrecher als bedauernswerte „Homo miserabilis“ betrachtet, soll hier ein mit allen Annehmlichkeiten ausgestattetes Hochhaus entstehen. Makina philosophiert in ihrer Suite über Architektur, arbeitet an ersten Skizzen, unterhält sich mit einer KI, aber auch mit ihrem jüngeren Gespielen Takuto. Einige Jahre später ist Makinas Entwurf realisiert, aber die Haltung der Öffentlichkeit zu dem Projekt ist gespalten, die Stimmung teilweise aufgeheizt. Makina hat sich aus dem Architekturbetrieb zurück gezogen, doch ein Interview mit einem betont politisch unkorrekten Journalisten konfrontiert sie wieder mit dem umstrittenen Bauwerk.

Rie Qudan ist Jahrgang 1990 und in Japan eine bekannte und vielfach ausgezeichnete Autorin. Der vorliegende Roman wurde mit dem Akutagawa-Preis bedacht, einem der wichtigsten Literaturpreise Japans. Er ist in einer nicht weit entfernten, alternativen Zukunft angesiedelt, in der Zaha Hadids Olympiastadion tatsächlich gebaut wurde. Das zentrale Thema des Buches ist Empathie – welche Rolle sie in unserer Gesellschaft spielt, spielen kann und spielen soll. Auch künstliche Intelligenz spielt eine gewisse Rolle (wenngleich nicht in dem Ausmaß, wie es der Klappentext suggeriert). Qudan ist merklich von Murakami beeinflusst, auch ihre Figuren bewegen sich beinahe schlafwandlerisch durchs Leben und haben ihre liebe Not damit, echte Beziehungen aufzubauen. Allerdings hinterlässt das Buch am Ende einen eher ratlosen Leser, der nicht genau weiß, was ihm die Autorin sagen wollte.

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Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 01.07.2025 13:171751368643

"Ich überlege, ob wir an diesem Wettbewerb teilnehmen sollen oder nicht."

Rie Qudan: "Tokyo Sympathy Tower"

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Literaturrätsel # 1081
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Literaturrätsel # 1081

am 01.07.2025 13:151751368515

Ja, es ist wahrlich heiß.
Daran liegts aber nicht, dass ich nicht draufkam - ich habe schlicht und ergreifend noch nie von diesem Autor bzw. dieser Serie gehört.Es geht wohl um Simon Raven und seinen Zyklus "Almosen fürs Vergessen", erschienen im (mir ebenfalls unbekannten) Elfenbein Verlag.

Thema
Kaliane Bradley: Das Ministerium der Zeit
Thema von Oliver Herzig im Forum SF, Fantasy & Horror

am 26.06.2025 08:141750918491

Eine junge Frau bewirbt sich um einen Job bei einem mysteriösen Ministerium. Erst bei ihrer Einstellung erfährt sie, worum es in diesem Job konkret gehen wird: die Betreuung von Expats. Allerdings nicht Expats aus einem anderen Land, sondern aus einer anderen Zeit. Das Ministerium ist an eine Technologie gelangt, die es ermöglicht, Personen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Um Paradoxa zu vermeiden, werden nur Personen ausgewählt, die ohnehin kurz nach ihrer Extraktion gestorben wären. Der Klient der jungen Frau ist Commander Graham Gore, Teilnehmer der legendären, gescheiterten Franklin-Polarexpedition und mutmaßlich 1847 gestorben. Während sich Gore mühsam an die neue Zeit anpasst, kommen er und die junge Frau sich näher. Was beide nicht wissen: das Ministerium hat mit den Extrahierten aus der Vergangenheit seine eigenen Pläne. Und dann gibt es auch noch eine andere Gruppe, die an den Zeitflüchtlingen Interesse hat …

Kaliane Bradley hat für ihre Kurzgeschichten einige Preise erhalten, dieser Debütroman wurde für 25 Länder lizenziert und von der Kritik sehr positiv aufgenommen. Teilweise zurecht, denn Bradley kann zweifelsohne schreiben, im Buch finden sich viele witzige Passagen, die auf dem culture clash zwischen dem englischen Gentleman des 19. Jahrhunderts und der modernen jungen Frau beruhen. Bradley ist wie ihre Protagonistin britisch-kambodschanischer Herkunft, was ihr Gelegenheit gibt, im Roman auch den Themenkomplex rassischer Vorurteile aufzugreifen. Und hier liegt meiner meiner Meinung nach der Schwachpunkt des Buches: er will zu viel. Im Kern eine Science Fiction-Story, mutiert er zur Liebesgeschichte mit Comedy-Elementen, schwenkt in Richtung Gesellschaftskritik, um dann in ein überstürztes SF-Finale zu münden (mit einer Coda, die uns wieder zum Liebesroman zurückführt). Das kann man abwechslungsreich finden, für mein Empfinden mäandriert der Roman unentschlossen zwischen den Genres und Tonalitäten hin und her und findet keinen Fokus. Was schade ist, den Bradley hat eindeutig großes Talent, das sich hoffentlich im nächsten Roman konzentrierter zeigen wird.

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Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 26.06.2025 07:471750916869

Simellia vermutete, es hatte mit Überlebensschuld zu tun, die sich in der Angst äußerte, die (längst toten) Läuse, die ihn an der Westfront geplagt hatten, seien ihm in die Zukunft gefolgt.

Kaliane Bradley: Das Ministerium der Zeit

Thema
Daniela Strigl: Zum Trotz – Erkundung einer zwiespältigen Ei...
Thema von Oliver Herzig im Forum Sach- und Fachbuch

am 24.06.2025 16:071750774054

Der Trotz hat tatsächlich ein Imageproblem. In seiner positiven Ausprägung ist er dem Mut nahe, dem heldenhaften Widerstand gegen eine sich im Irrtum befindliche Übermacht. So soll Galilei nach seiner Verurteilung trotzig „Und sie bewegt sich doch!“ gemurmelt haben (was nie belegt wurde). Allzu oft aber hat der Trotz etwas Kindisches an sich, wird zum Beharren auf unhaltbaren Positionen. Hier könnten einem so manche Querdenker aus den Zeiten der Covid-Pandemie einfallen. Der Trotz hat also eine positive und eine negative Seite – was ihn zu einem interessanten Phänomen macht.

Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, bekannt auch als langjährige Jurorin beim Bachmann-Preis, widmet dieser Eigenschaft oder Haltung einen unterhaltsamen Essay. Ihr Urbild des Trotzigen ist Kleists „Michael Kohlhaas“, der Mann, der ohne Rücksicht auf Verluste ein erlittenes Unrecht wieder gutgemacht wissen will, mit verheerenden Konsequenzen. Aber auch andere literarische Figuren werden hier als Beispiele für trotziges Verhalten herangezogen, von Peter Rosegger etwa oder von Maria von Ebner-Eschenbach. Der trotzige Mensch in seinen verschiedenen Ausprägungen, als Rebell, Wilderer, Terrorist, Heroine, Desperado, Amokläufer, Dissident, Einzelkämpfer, Querdenker oder Querulant wird beschrieben und analysiert. Besonders gefreut hat mich, dass die aus heutiger Sicht bizarren „Trotzkopf“-Bücher, die ich von meiner Mutter her kannte, hier wieder Erwähnung finden. Es ist eine Galerie der Trotzigen, manche harmlos, andere hochgefährlich, die hier mit Beispielen aus der Literatur und der Geschichte vorgeführt wird. Das liest sich kurzweilig, regt aber auch zum Nachdenken über das eigene Verhalten an, wann man auf eine der beiden Seiten dieser zwiespältigen Eigenschaft gefallen ist …

Eine (trotzige?) Anmerkung sei aber noch gestattet: im entsprechenden Abschnitt zitiert Strigl ausgiebig den Song „Desperado“ und schreibt ihn Johnny Cash zu. Der hat den Song aber nur interpretiert, geschrieben wurde er von Glenn Frey und Don Henley von den Eagles, die nirgends im Text oder in den Anmerkungen erwähnt werden. Das sollte einer Literaturwissenschaftlerin nicht passieren, selbst wenn es „nur“ um einen Songtext geht.

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Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 24.06.2025 15:391750772347

Die realen Geschehnisse in dieser Gegend, die Landflucht als Folge zahlreicher Hofverkäufe an Jagdherren ab 1870, liegen der Handlung von "Jakob der Letzte. Eine Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen" zugrunde.

Daniela Strigl: Zum Trotz - Erkundung einer zwiespältigen Eigenschaft

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Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 21.06.2025 20:041750529098

Pardautz! Da ist mir am Ende ein Anführungszeichen reingerutscht, das dort nicht hingehört. Sorry!

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Literaturrätsel # 1081
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Literaturrätsel # 1081

am 21.06.2025 11:131750497193

Also irgendwas mit Ivory?
Eine rasche Gurgel-Suche bringt mir da nur verdächtige "erotische Romane" und eine Serie, die in Oxford angesiedelt ist ...

Thema
Joyce Carol Oates: Der Schlächter
Thema von Oliver Herzig im Forum Zeitgenössische Literatur

am 19.06.2025 09:451750319149

Neu-England, Anfang des 19. Jahrhunderts. Silas Weir studiert um seinem Vater zu gefallen Medizin, obwohl er dazu keinerlei Talent hat. Beim Anblick von Blut fällt er in Ohnmacht, die Körper von Patienten stoßen ihn ab. Besonders Patientinnen sind ihm ein Graus, seine calvinistische Erziehung hat ihm einen wahren Horror vor diesem „Gefäß der Sünde“ eingeimpft. Ironischerweise wird er über Umwege Leiter der Staatlichen Heilanstalt für weibliche Geisteskranke in New Jersey. Und dort beginnt er zu experimentieren. Seine These: Geisteskrankheit hat organische Ursachen, bei Frauen sind diese Ursachen in den Geschlechtsorganen zu finden. Er überwindet seinen Ekel und entwickelt eine eigene medizinische Sparte, die Gynäkopsychiatrie. Skrupellos erprobt er an seinen Patientinnen, meist armen irischen Vertragsschuldnerinnen, neue Techniken, die oft zum Tod der Frauen führen. Fehlschläge rechtfertigt er vor sich und anderen mit dem Argument, dass ihn jede tote Patientin näher zur Heilung zukünftiger Fälle bringt. Die Schuldmagd Brigit Kinealy hat es ihm besonders angetan, zu ihr fühlt er sich aufgrund ihrer engelhaften Erscheinung auch auf verquere Art sexuell hingezogen. Sie beschwert ihm nach mehreren qualvollen Eingriffen einen Durchbruch – und wird schließlich zu seinem Untergang.

Silas Weir hat es nicht gegeben. Es gab aber Ärzte wie ihn – Joyce Carol Oates schöpft für ihren neuen Roman aus den Biographien mehrerer amerikanischer Ärzte des 19. Jahrhunderts. Experimente an Vertragsschuldnerinnen, deren Status kaum besser war als der von Sklavinnen, waren damals gang und gäbe. Meist katholisch und von irischer Abstammung, wurden sie von den protestantischen, englischstämmigen Ärzten kaum als menschliche Wesen betrachtet und waren verfügbares „Material“ zur Entwicklung von medizinischen Techniken, die dann den wohlhabenden Patienten der Oberschicht zugute kamen. Opfer wurden billigend in Kauf genommen, und auch teilweise absurde Methoden leichtfertig erprobt. Joyce Carol Oates hat, soweit ich das nachprüfen kann, sauber recherchiert – sie ist schließlich ein Profi. Die sehr produktive Autorin publiziert seit gut 60 Jahren und wird immer wieder für den Nobelpreis ins Spiel gebracht. Es ist also kein Wunder, dass der Roman, zusammengesetzt aus den (fiktiven) Lebenserinnerungen von Silas Weir und Brigit Kinealy, versehen mit Anmerkungen des Sohns von Weir, gut gebaut und packend geschrieben ist – manche Szenen mit chirurgischem Inhalt sind allerdings nichts für sensible Gemüter. Ein feministischer Roman, der die Ab-, ja Entwertung des weiblichen Körpers im 19. Jahrhundert und ihre sozialen und religiösen Wurzeln thematisiert und dabei ein veritabler Pageturner ist – kein kleines Kunststück. Empfehlung!

Beitrag
Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 19.06.2025 09:091750316958

Wie viele Nordstaatler, ja wie Abraham Lincoln selbst, glaubten die Weirs nicht, dass schwarze Männer & Frauen "gleich viel wert" wie Weiße waren, lehnten als Christen aber Besitzsklaverei ab."

Joyce Carol Oates: Der Schlächter

Thema
Michael Cunningham: Ein Tag im April
Thema von Oliver Herzig im Forum Zeitgenössische Literatur

am 17.06.2025 09:511750146673

Wir begleiten eine Familie durch den 5. April in drei aufeinanderfolgenden Jahren. 2018 leben Dan und Isabel mit ihren Kindern Violet (5) und Nathan (10) in Brooklyn. Die Ehe hat Risse, Isabel verdient als Bildredakteurin einer Zeitschrift gutes Geld, während Dan, der früher als Rockmusiker beinahe erfolgreich war, an seinem Comeback bastelt. Der Kitt der Familie ist Isabels kreativer Bruder Robbie, der allerdings bald ausziehen soll, um Platz für ein zweites Kinderzimmer zu machen. Ein Jahr später ist Brooklyn im Lockdown, die Wohnung wird zum Gefängnis. Robbie ist in Island gestrandet, alleine, nur durch seine alternative Instagram-Persona mit der Welt verbunden. 2021 schließlich ist die Familie stark verändert und muss neue Wege finden, um mit den neuen Verhältnissen umzugehen. Denn nichts ist mehr so, wie es noch vor zwei Jahren war.

Michael Cunninham hat es mit der Zeit. In seinem größten Erfolg, dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten „Die Stunden“ (erfolgreich verfilmt mit Nicole Kidman) widmet er sich drei Frauen in unterschiedlichen Dekaden, deren Leben von Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ berührt werden (darunter Woolf selbst). Woolf taucht auch hier auf, Robbies Alter Ego auf Instagram heißt Wolfe. In diesem Roman nun sind es drei Tage in drei Jahren, in denen er die Veränderung einer Familie, ihrer Konstellation und Dynamiken demonstriert. Es ist ein ruhiger Roman, der viel auf Dialoge setzt. Cunningham verzichtet weitgehend auf ausbuchstabierte Charakterisierungen, sondern zeigt die Eigenheiten seiner Figuren in ihren Gesprächen – show, don´t tell in bester amerikanischer Manier. Ein ruhiger Roman, dessen Intensität sich erst durch konzentrierte Lektüre erschließt – die er auch verdient.

Beitrag
Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 17.06.2025 09:161750144607

"Okay."

Michael Cunningham: Ein Tag im April

Wieder mal ein Satz, aus dem man wenig über das Buch ableiten kann ...

Thema
Joe Thomas: White Riot
Thema von Oliver Herzig im Forum Krimi & Thriller

am 12.06.2025 08:111749708688

London, 1978. Durch hohe Arbeitslosigkeit gewinnen rechte Parteien an Einfluss, Margaret Thatcher steht davor, Premierministerin zu werden. Rassismus liegt in der Luft. Als Eric Clapton und David Bowie durch einschlägige Wortmeldungen auffallen, schließen sich linke Musiker zur Initiative Rock Against Racism zusammen und veranstalten ein Festival. Detective Constable Patrick Noble soll das Festival und sein Umfeld beobachten. Und er soll einen V-Mann bei den linken Aktivisten einschleusen – was er insgeheim nicht tut, sondern einen bei der National Front platziert. Und dann gibt e noch einen Mord an einem bengalischen Händler zu klären …

Im Sommer 1978 war ich auf Sprachkurs in England. Als 13jähriger hat man natürlich andere Themen als britische Innenpolitik und Bognor Regis ist auch weit von London entfernt. Aber die Kursleitung wies uns an, uns von den Jungs mit den Springerstiefeln, die immer am Pier herum lungerten, tunlichst fernzuhalten. „Paki bashing“ war eine Vokabel, auf deren Kenntnis ich gerne verzichtet hätte. Die Stimmung zu dieser Zeit ging also nicht ganz an mir vorbei, die Hintergründe lernte ich erst später. Joe Thomas´ nach einem Clash-Song benannter Roman erweckt nun die heraufziehenden Thatcher-Jahre in einem packenden Krimi in epischer Breite zum Leben (das Buch ist Auftakt zu einer Trilogie). Der Ansatz erinnert an David Peace, dem Thomas auch im Nachwort dankt, der Stil ist allerdings deutlich zugänglicher, geradliniger. Atemlos folgt man dem desillusionierten DC Noble, der sich noch einen Rest an Integrität bewahrt hat, durch das Gewirr aus politischem Aktivismus von links und rechts, aus sich intensivierender Gewalt und der mehr als fragwürdigen Position der Polizei. Ein spannender Krimi mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, gut recherchiert (Fußnoten und Originalzitate!) und mit Haltung. Was will man mehr.

Beitrag
Das Buch neben Dir ...
Foren-Beitrag von Oliver Herzig im Thema Das Buch neben Dir ...

am 12.06.2025 07:421749706967

Tüte Pommes, Phil?, fragst du, hast du Lust?

Joe Thomas: White Riot

Thema
Wolfgang Niess: Schicksalsjahr 1925 – Als Hindenburg Präside...
Thema von Oliver Herzig im Forum Sach- und Fachbuch

am 11.06.2025 08:041749621893

Als mit Friedrich Ebert der erste Präsident der jungen Weimarer Republik im Februar 1925 verstarb, hatte die Rechte ihr erstes Etappenziel erreicht. Denn Eberts Tod kam keineswegs überraschend, er wurde durch gezielte Attacken physisch und psychisch zermürbt. Das zweite Ziel war die Installierung eines neuen Präsidenten, der in seinen Anschauungen mit den Zielen der Reaktion kompatibel war. Ein zweiter Bismarck wurde gesucht. Paul von Hindenburg war dafür keineswegs die erste Wahl, der „Sieger von Tannenberg“ hatte viel von seinem Glanz verloren. Auch er selbst strebte das Amt zuerst nicht an, er wollte gebeten werden – diesen Gefallen tat ihm allerdings zunächst niemand. Erst auf verschlungenen Pfaden in der unübersichtlichen Gemengelage der Innenpolitik kandidierte Hindenburg, wobei sein Sieg keineswegs sicher war. Erst die heillos zerstrittenen Republikaner, die sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, ermöglichten seine Wahl. Man tröstete sich mit dem Umstand, dass Hindenburg seinen Schwur auf die Verfassung ablegte – ein tragischer Fehler, acht Jahre später machte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.

Wenn man an Schicksalsjahre Deutschlands denkt, ist das Jahr 1925 wohl nicht das erste, das einem einfällt. Der promovierte Historiker Wolfgang Niess argumentiert in seinem Buch, dass in diesem Jahr die Weichenstellung hin zur Entwicklung der NS-Diktatur erfolgte, eine These, die man sehr wohl diskutieren kann. Denn Hindenburg war zwar, wie Niess eindrucksvoll belegt, ein Reaktionär und Monarchist, der der Republik feindselig gegenüberstand. Mit Hitler hatte er allerdings zunächst nichts am Hut, er verachtete den „böhmischen Gefreiten“ in den 1920ern zutiefst. Für den ostpreussischen Junker Hindenburg war Hitler ein Emporkömmling, keineswegs auf Augenhöhe mit „seinen Leuten“, wie er die Adeligen, die den Kaiser zurückwollten, immer nannte. Und doch: in den 30ern stieg Hitler in seinem Ansehen, bis ihn Hindenburg schlussendlich seinen „lieben Kanzler“ nannte. Niess zeichnet diese Jahre minutiös nach, besonders dem Wahljahr 1925 gibt er breiten Raum, das wohl noch nie so genau beschrieben wurde. Aber auch Hindenburgs Weg vor der Wahl wird behandelt (samt einer entlarvenden Dekonstruktion des Tannenberg-Mythos) sowie die verhängnisvollen Jahre bis 1933. Das Buch ist ein spannender Einblick in die verworrenen innenpolitischen Verhältnisse der Weimarer Republik und beleuchtet eine oft übersehen Facette dieser Jahre.

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