"Überschreibungen" bei Stücken

07.02.2024 09:10
#1
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Mir ist bei einem Besuch im Burgtheater (Büchners "Dantons Tod") wieder aufgefallen: kaum eine Inszenierung heutzutage kommt mehr ohne die Einfügung von Texten anderer Autoren aus (im gegenständlichen Fall waren es Texte von Heiner Müller, der nach meiner Wahrnehmung wie auch Botho Strauß für derartige Zwecke sehr beliebt ist), Nun bin ich kein Freund einer musealen Aufführungspraxis und es tat auch der Qualität der Aufführung, die allein schon durch die beiden Hauptdarsteller Nicholas Ofczarek und Michael Maertens sichergestellt war, keinen nennenswerten Abbruch. Andererseits: wenn man das Stück nicht brav kurz vor der Aufführung gelesen hat, ist es schwer zu entscheiden, ob man nun gerade Büchner oder Müller gehört/gesehen hat ...
Wie ist Ihre Meinung zu dieser weit verbreiteten Praxis?


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07.02.2024 11:11 (zuletzt bearbeitet: 07.02.2024 11:12)
#2
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Wahrscheinlich bin ich im Inneren ein Freund "musealer Aufführungen" ;-))

Seit Dramaturgen und Intendanten sich im Rahmen ihrer künstlerischen Selbsterhebung dazu berufen fühlen sehr eigenwillige Interpretationen von "Klassikern" zu inszenieren und die literarischen Ausgangsmaterialien nur zum Gegenstand eigener künstlerischer Darstellungen machen, besuche ich kaum noch ein Theater (also seit meiner Kindheit). Wenn nun vermehrt auch noch, ohne begleitende Kennzeichnung, z.B. in Programmzetteln, Texte anderer Autoren integriert werden, so ist das nur ein weiterer Schritt. Ärgerlich ist das allerdings nur, wenn das künstlerische Produkt sich nicht durch den Namen des (sorry, ich meine es nicht wirklich so) "Plagiators" vermarktet, sondern durch den Namen des Ursprungsautoren, der sich eventuell "im Grabe umdrehen" würde und die Theaterbesucher sich in ihrer Erwartungshaltung enttäuscht fühlen.
Ich bin so schrecklich altmodisch - wenn es nach mir ginge sollte auf den Theaterplakaten - "Dantons Tod" in der Inszenierung von Eitel Fatzke,, frei nach Georg Büchner stehen. Dann wäre das völlig okay und man könnte sich ohne ein merkwürdiges Gefühl an den darstellerischen Qualitäten oft bemerkenswert guter Schauspieler, dem tollen Bühnenbild, den gewagten Gedankensprüngen des Dramaturgen oder den berauschenden Körperausdünstungen des Sitznachbarn ergötzen.

In der Musik ist das ja auch so, da wird gesampled und gemixed, was das Zeug hält. Manchmal gefällt es auch, meistens nicht.

Wer hier aber allzu kritisch ist, sollte sich in der "klassischen" Literatur umsehen. Da wurde auch geklaut und überarbeitet, was das Zeug hält.

Wenn Theater nur nach dem Shakespear'schen Motto "Wie es euch gefällt" gefällt gemacht werden würde, dann müssten wir es nicht subventionieren. Dann gäbe es aber auch nur noch Musicals und den Komödienstadel. Wer will das schon ;-))


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08.02.2024 13:29
#3
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Im Programmheft wurde selbstverständlich vermerkt, dass Heiner Müller-Texte eingefügt wurden. Während der Aufführung waren sie nicht zu bemerken, erst im Nachgang fiel uns auf, dass da Passagen waren, die eine andere Tonalität hatten.
Anyway, ich wollte hier nicht das uralte Fass "Regietheater vs. Werktreue" aufmachen - das ist eine einigermaßen abgenudelte Diskussion.
Ich kann nur sagen, dass mir in meiner Jugend das Steh-, Schreit- und Deklamiertheater diese Kunstform beinahe vergällt hätte. Nestroy wurde biedermeierlich zu Tode verharmlost, die ewiggleichen Schauspielgranden näselten sich in Großbürgersalon-Kulissen durch Schnitzler und Hofmannsthal, bei Shakespeare und Grillparzer schepperten die Rüstungen.

Und dann kamen (ziemlich zeitgleich) Peymann und Tabori nach Wien.

Letzterer weckte mit seiner 6stündigen Collage "Verliebte und Verrückte" meine Leidenschaft für Shakespeare, ersterer krempelte das Burgtheater derart gründlich um, dass kein Stein auf dem anderen blieb (und die konservative Presse in Schnappatmung verfiel: der Mann sagte doch tatsächlich "Schangse"!).
2, 3 Jahre später waren die zuvor beschimpften "Piefke-Schauspieler" wie Voss oder Kirchner everybody´s darling, Peymann wird bei seinen gelegentlichen Gastspielen hier hofiert. So schnell kann´s gehen ...

Ich gebe gerne zu, dass Regietheater auch nerven kann. Wenn ich noch einmal einen König in SS-Uniform, auf der Bühne herrenlos herumstehende Koffer oder ein Bühnenbild aus schiefen Ebenen sehen muss, bekomme ich wahrscheinlich einen Schreikrampf. Auch die eine Zeitlang obligatorische Nackte ist nur mehr öd. Aber Marthaler hat mir in seinem radikal dekonstruierten "Faust Wurzel aus (1+2)" in 3 Stunden mehr über das Stück gesagt als Peter Stein in seinem 2tägigen, zwänglerisch-ungekürztem Marathon.


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18.03.2024 15:54
#4
An

Klassiker sind in der Regel deshalb Klassiker, weil sie auch über Jahrhunderte hinweg uns bis heute ansprechen können. Dabei kann es ausgesprochen spannend sein, die Texte mit heutigen Texten zu konfrontieren. Das sollte allerdings auch in der Aufführung deutlich werden - durch Sprechweise, Licht/Bildregie, neue Figur oder wie auch immer, es gibt heute viele Möglichkeiten. Einen Einheitsbrei aus alt und neu halte ich für problematisch und verfälschend. Und wenn ein Regisseur die neuen Einfügungen nur braucht, weil er dem Klassiker oder dem heutigen Publikum misstraut, also den Klassiker für unklar und das Publikum für dumm hält, dann hat er das falsche Stück oder den falschen Beruf gewählt. Im übrigen kann ich Oliver Herzig nur zustimmen.


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