Gerhard Henschel: Schelmenroman

30.04.2024 08:40
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Mit dem Einstieg bei „Titanic“ ändert sich für Martin Schlosser 1993 so einiges: Umzug nach Frankfurt, ein halbwegs regelmäßiges Einkommen, vermehrter Kontakt zum Literaturbetrieb. Schlosser genießt sein neues Leben in vollen Zügen, getrunken wird nicht zu knapp, auch der Sex kommt nicht zu kurz. Produktiv ist er auch: neben seiner Arbeit für die Satirezeitschrift arbeitet er an mehreren Buchprojekten, teils allein, teils in Kollaboration mit bereits etablierten Autoren wie Eckhard Henscheid oder Wiglaf Droste. Nur der Tod seiner geliebten Großmutter wirft einen Schatten auf sein Leben. Aber mit der Zeit wird er der Stadt überdrüssig, verlässt die „Titanic“-Redaktion und zieht als freier Autor ins beschauliche Göttingen.

Der Umfang ist beeindruckend: der „Schelmenroman“ ist der 10.(!) Band von Gerhard Henschels autofiktionaler Biografie um sein Alter Ego Martin Schlosser (Rezension früherer Bände hier: Gerhard Henschel: Schauerroman, Gerhard Henschel: Erfolgsroman, Gerhard Henschel: Arbeiterroman). Das Konstruktionsprinzip bleibt auch in diesem Band gleich und ist stark an den von Henschel verehrten Walter Kempowski angelehnt: in kurzen, selten mehr al eine Seite langen Szenen beschreibt Henschel Beobachtungen, Erlebnisse, Anekdoten. Das sorgt für leichte Lesbarkeit, die 600 Seiten sind schnell verschlungen. Leider aber sind zwei Tendenzen sehr deutlich zu beobachten, die sich im vorigen Band bereits angekündigt haben: einerseits fallen die Kommentare zum Zeitgeschehen immer dürftiger aus, sodass das Buch deutlich weniger als Chronik der deutschen Zustände als frühere Bände gelesen werden kann. Und andererseits ist die in früheren Bänden vorhandene Selbstironie so gut wie verschwunden: Henschel geht mit seinen Gegnern (Grass, Böll, Wolf, Reich-Ranicki …) ziemlich erbarmungslos zu Gericht, reagiert aber auf Kritik an sich und seine Freunde dünnhäutig und aggressiv. Das macht den Autor nicht gerade sympathisch. Auch wird sich der manchmal sehr spezielle Humor (z.B. im gemeinsam mit Wiglaf Droste verfassten „Der Barbier von Bebra“) nicht jedem Leser erschließen. Schade drum, denn die Reihe war bisher immer eine sehr vergnügliche Sache.


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