Barbi Marković: Die verschissene Zeit

06.10.2022 14:58
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Belgrad, 1995. In einer heruntergekommenen Siedlung am Stadtrand lebt die 13jährige Vanja mit ihrem 15jährigen Bruder Marko und ihren Eltern. Gemeinsam mit ihrer Freundin Kasandra, die als Romni noch ein Stück mehr an Unglück mit sich herumschleppt, versuchen sie, irgendwie durchzukommen. Das Leben ist von Armut, Langeweile und Gewalt geprägt, der Nationalismus wird immer dominanter. Eines Tages werden die drei von berüchtigten Schlägertypen dazu genötigt, ein mysteriöses Medaillon aus dem Haus einer bekannten Sängerin zu stehlen. Gerade, als sie in das Haus eindringen wollen, fallen sie in Ohnmacht – und erwachen im Jahr 1999, dem Jahr, in dem die NATO Belgrad bombardiert. Wie sich herausstellt, ist eine defekte Zeitmaschine im Spiel: wenn die drei Freunde nicht schnell das Medaillon und einen roten Porsche beschaffen können, werden sie auf ewig zufällig in den unerfreulichen 1990er Jahren hin- und hergeschickt. Auf ihrer Suche geraten sie an korrupte Polizisten, die Mafia und sonstige Erscheinungen des jugoslawischen Alltags dieser wahrlich verschissenen Zeit …

Barbi Marković hat schon mit ihrer Bernhard-Paraphrase „Ausgehen“ und ihrem düster-komischen Roman „Superheldinnen“ zurecht Aufsehen erregt. Ihr nun vorliegender jüngster Streich müsste, wenn es in der literarischen Welt halbwegs gerecht zugeht, für den endgültigen Durchbruch sorgen. Denn „Die verschissene Zeit“ ist ein aufregendes popkulturelles Spiel mit dem Belgrad der 1990er Jahre. Wobei Spiel hier wörtlich zu verstehen ist: dem Buch beigepackt ist ein Regelheft für ein Rollenspiel, mit dem der Leser die Handlung weiterentwickeln oder variieren kann, das Spielmaterial kann auf der Homepage des Verlages heruntergeladen werden. Neben der chaotischen Geschichte des sich auflösenden Jugoslawien in den 1990ern kann man hier auch sehr viel über den bedrückenden Alltag in dieser Zeit lernen, über kulturelle Codes und Verhaltensweisen – und schließlich auch über die sehr farbige Kunst der Beschimpfung, die in Belgrad gepflegt wurde (und wahrscheinlich noch immer wird). Trotz des ernsten Gegenstands ist Marković eines nicht: humorlos. Allerdings ist ihr Humor von der grimmigen, dunklen Sorte, das Buch ist nichts für Zartbesaitete. In Summe ist Marković mit diesem Buch allem, was sich derzeit „Popliteratur“ nennt, um mehrere Meilen voraus. Empfehlung!


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