Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern

11.10.2022 08:54
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Hochsommer in Norwegen. Wir begleiten neun Personen durch die beiden heißesten Tage des Jahres. Zum Beispiel den Literaturprofessor Arne, der im Sommerhaus mit der Unzufriedenheit mit seinem Leben und einem manischen Schub seiner Frau kämpft. Arnes Nachbar Egil bekommt ohne Vorwarnung von seiner geschiedenen Frau den gemeinsamen Sohn ins Haus geliefert. Der versoffene, in Ungnade gefallene Journalist Jostein erfährt während einer Zechtour vom Mord an den Mitgliedern einer Death Metal-Band und wittert die Chance für ein Comeback. Seine Frau Turid wiederum muss in ihrem Beruf als Betreuerin in einer psychiatrischen Anstalt einem entflohenen Patienten in den Wald folgen. Die Pfarrerin Kathrine empfindet plötzlich ihre bisher glückliche Ehe als einengend und beerdigt einen vor einer Woche gestorbenen Mann, den sie erst gestern gesehen hat. Und die Krankenschwester Solveig muss miterleben, wie ein gehirntoter Mann, kurz bevor ihm die Organe entnommen werden sollen, die Augen aufschlägt. Unheimliches geschieht überall, Ratten tauchen an ungewöhnlichen Orten auf, Krebse wandern in Scharen über die Straße, ein Dachs dringt in ein Haus ein, eine Katze stirbt auf unerklärliche Weise. Und am Firmament erscheint ein neuer, strahlender Stern – Heilsversprechen oder Bote des Untergangs?

Karl Ove Knausgård, berühmt-berüchtigt für sein vieltausendseitiges autofiktionales Projekt „Min Kamp“ (Rezension hier: https://www.xing.com/communities/posts/k...pfen-1013478003), entdeckt den Stephen King in sich. Denn „Der Morgenstern“ weist alle Charakteristika eines Horrorromans auf: in (scheinbar) wohlgeordnete Existenzen dringt zuerst unmerklich, dann immer dramatischer das Unerklärliche und Unheimliche ein, das dionysische Prinzip verdrängt das apollinische. Unterschiede bestehen natürlich: wo bei King, der auch nicht gerade für dünne Bücher bekannt ist, eigentlich meist Schluss ist, fängt Knausgård erst an: „Der Morgenstern“ bildet mit seinen 900 Seiten dem Vernehmen nach nur den Auftakt zu einer mehrbändigen Serie. Und wo bei King in den letzten Jahren im Zeichen des amerikanischen Puritanismus die Protagonisten maximal Eistee trinken, wird bei Knausgård gesoffen und gequalmt, als gäbe es kein Morgen. Aber es stellt sich eben auch wieder dieser ganz eigene Knausgård-Sound ein, bei dem es einem ganz plausibel vorkommt, dass Leute schon beim Frühstück über Kierkegaard und die Bibel diskutieren und man es mit Interesse verfolgt, wie jemand Lebensmittel fürs Abendessen einkauft (inklusive minutiöser Auflistung des Eingekauften). Wo das ganze hinführt, ist nicht zu sagen – Knausgård verlässt seine Figuren mitten in den Geschehnissen. Das Buch endet mit den ominösen Zeilen: „Der Morgenstern. Ich weiß, was dieser Stern bedeutet. Er bedeutet, dass es begonnen hat.“

Was dieses „Es“ ist, wird sich wohl erst in den nächsten hunderten (oder tausenden?) Seiten klären. Oder auch nicht. Was aber egal ist – man möchte, wenn man einmal in diesem Buch drinnen ist, nicht aufhören, diesem Autor zu folgen.


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