Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen

11.10.2022 09:25
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Adolf Eichmann war SS-Obersturmbannführer und leitete ab 1941 im Reichssicherheitshauptamt das Referat IV B 4 (Juden- um Räumungsangelegenheiten). In seine Zuständigkeit fiel somit die Organisation der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland und den besetzten Gebieten in die Gettos und Vernichtungslager in Ost-Europa. Nach dem Krieg gelang es ihm, unter falschen Namen unterzutauchen und er floh 1950 nach Argentinien. Am 11. Mai 1960 wurde er von einer Gruppe Mossad-Agenten entführt und nach Israel gebracht, wo ihm ab 11. April 1961 unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit der Prozess gemacht wurde. Am 15. Dezember 1961 wurde Eichmann zum Tode verurteilt und am 1. Juni 1962 nach erfolgloser Berufung hingerichtet.

Hannah Arendt, zu dieser Zeit bereits eine öffentlich bekannte Intellektuelle, nahm als Beobachterin an Teilen des Prozesses teil und verfasste für den „New Yorker“ eine Serie von Artikeln, die sie später zu diesem, ihrem wohl berühmtesten Buch erweiterte. Das 1963 auf Englisch und 1964 auf Deutsch erschienene Buch löste heftige Kontroversen aus. Arendt widersprach mit ihrer Darstellung Eichmanns als „Hanswurst“, „phantasielos“ und „gedankenlos“ der von Israel und der Anklage vertretenen Charakterisierung als Chefarchitekten des Holocaust. Sie warf der Anklage vor, die grundsätzliche Funktionsweise des NS-Regimes, nämlich die Verteilung (und damit die Verschleierung!) der Schuld auf viele über-, gleich- und nachgeordnete Stellen nicht verstanden zu haben. Weiters thematisierte sie kritisch die Legitimität der Entführung Eichmanns aus Argentinien, die Rolle der Judenräte bei den Deportationen, die Zuständigkeit eines israelischen Gerichts sowie die Argumentation der Anklage und des Berufungsgerichts. In Zuge der Kontroverse wurde Arendt oft falsch verstanden, ihr, der aus dem Internierungslager Gurs nur knapp geflohenen Jüdin, vorgeworfen, Eichmann und seine Taten zu entschuldigen. Wenn man heute den Text liest, der nun in einer Neuauflage mit einer umfangreichen Dokumention der Kontroverse erschienen ist, stellt sich dem Leser die Frage, wie z.B. ein Golo Mann zu derartigen Auffassungen kommen konnte. Denn Arendt ist in ihrer Beurteilung Eichmanns als Verbrecher eindeutig – sie wollte ihn nur nicht als das Monster sehen, zu dem er stilisiert wurde, sondern als einen gewissenlosen Bürokraten, der seine Aufgabe erfüllte, ohne sich viele Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Arendts Analyse der Funktionsweise des NS-Regimes wurde durch spätere historische Darstellungen vielfach bestätigt, ihr Bericht über den Prozess ist aufgrund der differenzierten Darstellung auch heute noch höchst lesenswert.


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