Timothy Snyder: Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin

17.11.2022 14:00
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Als dieses Buch 2010 erschien, ahnte niemand, nicht einmal Timothy Snyder, dass es 12 Jahre später durch den Angriff Putins auf die Ukraine tragische Aktualität erlangen würde. Für Diskussionen sorgte es aber schon damals. Dem Verfasser, immerhin Professor für Osteuropäische Geschichte an der Yale University, wurde alles mögliche vorgeworfen, von der Konstruktion eines fiktiven historisch-geografischen Raums über die unreflektierte Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus bis Hin zur Relativierung des Holocaust.

Was erregte damals so die Gemüter? Snyder richtet die Aufmerksamkeit auf eine vom Baltikum über Ostpreußen, das östliche Polen, Westrussland und Belarus bis zur Ukraine reichenden Region, in der in den Jahren 1933 -1945 rund 14 Millionen Menschen durch gezielte Aktionen der NS-und Stalin-Regimes ums Leben gekommen sind. Es geht hier nicht um Opfer von Kriegshandlungen, sondern um Zivilisten oder Kriegsgefangene, die wissentlich und willentlich getötet wurden. Snyder unterscheidet fünf Formen dieser Morde: zuerst die durch die brutale Kollektivierung ausgelöste Hungersnot in Ost-Russland und der Ukraine samt des parallel entstehenden Gulag-Systems durch Stalin. Dann der darauf folgende Große Terror, der sich vorwiegend gegen Bauern und nationale Minderheiten richtete. Die dritte Form stellte die versuchte Auslöschung der Eliten im von Deutschland und Russland besetzten Polen dar. Die vierte Form war die von beiden Seiten betriebene unterstellte kriegerische Komplizenschaft, d.h. dass massenweise Zivilisten feindliche Aktivitäten unterstellt wurden und diese als Partisanen hingerichtet oder als Sklavenarbeiter deportiert wurden. Die fünfte Form schließlich war Hitlers „Generalplan Ost“, der auf eine Entmodernisierung und Entvölkerung Ost-Europas abzielte, wozu auch die „Endlösung“ gehörte.

An diesem letzten Punkt entzündete sich ein besonderer Strang der Kritik, da Snyder betont, dass, so schrecklich die Konzentrationslager im westlichen Teil des Deutschen Reichs auch waren, sie den Insassen noch eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit ließen; bei den Vernichtungslagern im Osten wie Treblinka, Sobibor oder Majdanek war das nicht der Fall. Snyder wurde daraufhin Verharmlosung von Auschwitz vorgeworfen (obwohl er den hypriden Charakter dieses Lagers hervorhob). Ein Faktor in der Diskussion dürfte auch Snyders betont wenig emotionale Sprache sein; er bemüht sich um eine distanzierte Darstellung und lässt lieber Zahlen und Zeitzeugen sprechen. Das Buch ist vor kurzem um ein Nachwort erweitert neu erschienen. Es ist, obwohl Snyder sehr gut schreibt, eine deprimierende, erschreckende und quälende Lektüre – und leider (wieder) lesenswert.


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