Orhan Pamuk DIESE FREMDHEIT IN MIR

22.12.2022 05:55
#1
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Knapp 600 Seiten Print- oder 5.200 KB eBook - ein gewaltiges Werk, das wahrscheinlich schon per se einen Literatur-Nobelpreis wert wäre, hätte man diesen dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk nicht bereits 2006 verliehen. Diese "Fremdheit in mir" erschien erst 2014, also 6 Jahre nach der Aufnahme in den Literatur-Olymp.
Erscheinungsdatum wirklich 2014? Man stutzt und will es kaum glauben. So jung? Eigentlich doch so zeitnah und modern, aber...? Aber der Reihe nach.

Pamuks Buch ist eine Familien-Saga mit allem, was dazu gehört. Ein Epochen übergreifender Generationen-Roman mit der zentralen Figur des Boza-Verkäufers Mevlut (Wiki: „Boza ist ein leicht alkoholisches, süßlich-prickelndes Bier, ursprünglich aus Hirse, das auf dem Balkan und in der Türkei, in Zentralasien und im Nahen Osten konsumiert wird“).
1954 kommt Mevlut, wie so viele, als kleiner Junge mit seinem Vater aus Anatolien nach Istanbul. 60 Jahre lang begleitet der/die LeserIn Mevluts Schicksal und das seiner Eltern, Onkel, Tanten, Cousins, Frau(en), Schwiegereltern, Töchter, Schwiegersöhne, Enkel, SchwägerInnen, Freunde. Und das alles vor dem Hintergrund der türkischen Historie und insbesondere der Entwicklung Istanbuls. Da bedarf es in der Tat schon einer vierseitigen Chronologie im Anhang, um den Über- und Durchblick nicht zu verlieren. Vor allem, wenn man ins Kalkül zieht, dass man Pamuks Schreibstil durchaus als detailverliebt bezeichnen darf.

Das Positive an dem Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist ein relativ authentisches Spiegelbild der türkischen Gesellschaft über sechs Jahrzehnte und insbesondere der vielen einfachen Menschen vom Land, die in der Metropole Istanbul ihr Glück versuchen.
Lässt man allerdings auch nur ein wenig literarische Kritik walten, handelt es sich um eine türkische Telenovela, die in jedem TV-Kanal nach vier Wochen abgesetzt würde. Zu zähflüssig, zu langweilig, zu vorhersehbar ist die von einem türkischen Mann konstruierte Handlung. Das Geschriebene plätschert vor sich hin, man erfährt nichts, was man bei halbwegs ausgebildeter Beobachtungsgabe nach zwei bis drei Türkei-Urlauben nicht eh schon wüsste. Selbst literarische „Kunstkniffe“, wie der Wechsel vom aussenstehenden Erzähler zum Monolog agierender Darsteller, läuft ins Leere, da es Pamuk versäumt, in diesen Passagen den Erzählstil zu ändern und zu profilieren.

Orhan Pamuk ist der vielleicht beliebteste und erfolgreichste, männliche türkische Schriftsteller unserer Zeit. Die türkisch-maskuline Weltsicht spriesst so auch aus allen Poren. Ein Mann ist der Hauptdarsteller, Männer dominieren den Alltag, die Sicht auf die Frauen ist männlich-traditionell. Und genau deshalb wieder der ungläubige Blick auf das Erscheinungsdatum. Bei aller Liebe zur authentischen Darstellung der Realität - wo bleibt zum Beispiel die wenigstens angedeutete Kritik an der Stellung und Rolle der Frau in dieser gesellschaftlichen Umgebung? Dürfte man das 2014 von einem Nobelpreisträger nicht verlangen? Warum durchgehend diese rosarote Wolke, diese naive Zufriedenheit, die sich vom Protagonisten auf die ganze Atmosphäre des Romanes überträgt? Selbst wenn Armut und Leid geschildert werden, bleiben diese immer systemimmanent.

Schwer erklärlich bleibt bis zum Schluß der Titel des Buches. „Diese Fremdheit in mir“ kommt als Terminus zwar immer mal wieder in unterschiedlichsten Zusammenhänge vor, wird aber auch im Kontext nicht klarer. Vielleicht ein Übersetzungsproblem? Im Originaltitel „Kafamda Bir Tuhaflık“ bedeutet Tuhaflik eher Eigenheit, Marotte, Verschrobenheit, was dem eigenbrödlerischen Charakter des Mevlut schon eher entspricht.
So bleibt auch in mir als Leser am Schluß eine Art von Fremdheit oder besser Befremdlichkeit ob des preisgekrönten Erfolges dieses Autors. Über den politischen Background des Literaturnobelpreises hatte ich bereits bei Olga Tokarczuk spekuliert. Orhan Pamuk lässt in mir die Ahnung aufkommen, dass dieser Preis auch eine Art Fleißkärtchen sein könnte.


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23.06.2024 18:51
#2
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Vor Kurzem habe ich diesen Roman gelesen und war durchaus beeindruckt von der Darstellung Istanbuls über mehrere Jahrzehnte hinweg. Nun muss man aber auch wissen, dass ich nie in Istanbul oder in der Türkei war. Die kulturellen Einblicke empfand ich wahrscheinlich vor allem deshalb als aufschlussreich (vorher kannte ich beispielsweise das Getränk Boza gar nicht).
Die Vorhersehbarkeit der Handlung störte mich in dem Buch gar nicht. Vielmehr gefiel mir die ruhige Erzählweise. Es war, als wenn ein alter Mann über sein Leben erzählt.

Ich mutmaße, dass die Fremdheit eine Anspielung auf Mevluts inneren Zwiespälte, insbesondere im Hinblick auf die Liebe seines Lebens, seine Identifikation mit der sich wandelnden Stadt sowie den politischen Strömungen innerhalb der Türkei, darstellen sollte. Das nicht übersetzte Wortspiel mit der Marotten Mevluts, insbesondere im Hinblick auf seinem lebenslänglichen Verkauf von Boza, unterstreicht auch meiner Meinung nach den Charakter Mevluts.


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24.07.2024 15:52
#3
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Vielen Dank für diesen Beitrag und Ihre Einschätzung, Frau Maas. Sicherlich kann man die ruhig dahinfliessende Geschichte auch als wohltuend empfinden. Das ist das Wunderbare in der Literatur - ein Buch kann unterschiedlichste Resonanz erzeugen. Von LeserIn zu LeserIn und intra-individuell abhängig von der jeweiligen Lebenssituation und Stimmung darf das ganz verschieden sein. Wichtig ist, dass eine solche Resonanz überhaupt auftritt. Ihnen weiter viel Spaß, mit welchem Buch und welchem Genre auch immer.


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08.08.2024 14:48
#4
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Vielen Dank.


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