Verena Moritz / Hannes Leidinger: Lenin: Die Biografie – Eine Neubewertung

25.04.2024 13:41
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Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin (übrigens nach dem Fluss Lena) hatte, was seinen Nachruhm anging, das Glück, dass von ihm im durchschnittlichen historischen Gedächtnis seine führende Rolle bei der Oktoberrevolution 1917 haften blieb und sein Nachfolger Stalin sich als skrupelloser Diktator und Massenmörder erwies. Lenin hingegen hatte lange Zeit das Image des Revolutionärs, der Russland von der drückenden Zarenherrschaft befreite – sozusagen der „gute Kommunist“. Die 100. Wiederkehr seines Todestages ist ein geeigneter Zeitpunkt, die Biografie dieses Mannes, der zu den prägendsten Gestalten des 20. Jahrhundert gehört, einer genauen Untersuchung zu unterziehen und mit den oft naiven Projektionen und Mythen, die ihn umgeben, abzugleichen.

Lenin stammte aus einem durchaus gutsituiertem Haus, wobei sein Vater spät im Leben eine herbe berufliche Niederlage erleiden musste, die die Familie in Bedrängnis brachte. Das einflussreichste Erlebnis des jungen Lenin war aber sicherlich die Hinrichtung seines Bruders, der in ein missglücktes Attentat auf den Zaren verwickelt war. Daraus folgte eine intensive Abneigung gegen die adelige Erbherrschaft und während seines Studiums die Beschäftigung mit den Thesen von Marx und Engels und anderer sozialistischer Denker. Die zweite Zäsur in seinem Leben war die gescheiterte Revolution von 1905, aus der Lenin zahlreiche Lehren zog und die ihn weiter radikalisierte. Nach Jahren des Exils kehrte er 1917, mit Unterstützung des Deutschen Reichs, nach Russland zurück und nutzte die Wirren nach der Februarrevolution, um zum mächtigsten Mann der bolschewistischen Bewegung zu werden und die Oktoberrevolution auszulösen. Bis zu seinem Tod, nur sieben Jahre später, stand er an der Spitze Russlands.

Soweit die Eckdaten. Aber was war dieser Lenin für ein Mensch? Kurz geagt: kein sehr angenehmer. Lenin war misstrauisch, rechthaberisch, belehrend, dogmatisch. Vor allem aber war er vollkommen unempathisch dem Leid anderer gegenüber. Er stellte nicht nur skrupellos politische Gegner kalt, sondern nahm die zahllosen Toten des Bürgerkriegs und der Hungersnot von 1920/21 ungerührt in Kauf. Er hatte ja auch keinen Plan dafür, was nach der Revolution geschehen sollte: bei Marx/Engels fand sich dazu nicht viel und selbst agierte er eher situativ, von Tag zu Tag.

Verena Moritz und Hannes Leidinger haben hier eine mit über 600 Seiten umfangreiche, auf Originaldokumenten beruhende Biografie vorgelegt, die sich vor allem auf den politischen Lenin konzentriert, Privates wie sein Verhältnis zu Frauen wird nur am Rande behandelt. Das Buch ist außerordentlich dicht geschrieben und braucht seine Zeit. Die allerdings gut investiert ist, denn die Dekonstruktion des Mythos Lenin erfolgt hier gründlich und akribisch. Einzig eine etwas ausführlichere Behandlung der Rezeption Lenins in der UdSSR bzw. Russland im Wandel der Zeit sowie ein kompiliertes Literaturverzeichnis wären wünschenswert gewesen (die Quellen aus den Fußnoten abzulesen ist etwas mühsam). In Summe ein sehr lesenswertes Buch, das mithilft, das heutige Russland zu verstehen.


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