Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten.

01.12.2023 06:57 (zuletzt bearbeitet: 01.12.2023 16:14)
#1
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Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser.
Carl Hanser Verlag 2003

Der Text ist vor 20 Jahren erschienen und wirkt, als wäre er aus aktuellen Anlass entstanden. Kriege und die damit verbundenen Gräuel haben sich seit dieser Zeit nicht wesentlich verändert. Die eigenen Opfer stehen noch immer über dem Leid der anderen, die Narrative passen sich den veränderten Gegebenheiten an.

Ausgehend von Virginia Woolfs Essay „Three Guineas“, nähert sich Sontag den kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngeren Vergangenheit (Jugoslawienkrieg und die Konflikte zwischen Palästinensern und Israel) und analysiert: „Wo es darum geht, den Krieg als solchen zu verurteilen, sind Informationen darüber, wer wann wo was getan hat, nicht erforderlich; das willkürliche, gnadenlose Gemetzel ist Aussage genug. Doch wer davon überzeugt ist, daß das Recht nur auf einer Seite, das Unrecht und die Unterdrückung aber auf der anderen Seite zu finden sind und daß der Kampf fortgesetzt werden muß, für den kommt es darauf an, wer von wem getötet wird.“ S.16

In diesem Zusammenhang kommen Darstellungen auf Fotos oder in Filmen eine besondere und komplexe Bedeutung zu. Sie suggerieren ein Abbild der Wirklichkeit und eine Eindeutigkeit, wo es tatsächlich um Projektion und Interpretation geht. Sontag analysiert eine Reihe ikonografischer Darstellung kriegerischer Szenen (etwa Capas Foto des tödlich getroffenen fallenden republikanischen Kämpfers oder des Vietnamesen, der die Pistole eines Polizeioffiziers an die Schläfe gepresst bekommt) und konstatiert, dass der Kontext, in dem solche Szenen dargestellt werden, durchaus variabel ist.

„Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der serbischen und der kroatischen Propaganda die gleichen Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der Tod dieser Kinder so und anders nutzen.“ S. 17

Wer würde bei diesen Sätzen nicht an die aktuellen kriegerischen Konflikte denken.

Fotografien bilden Erinnerungen an sich selbst und ersetzen die Erinnerung an das Dargestellte, worin Sontag die Gefahr einer wachsenden Distanz zum tatsächlichen Geschehen sieht. „Die Konzentrationslager - oder vielmehr die Fotos, die 1945 bei ihrer Befreiung gemacht wurden - sind schon fast alles, woran die Leute im Zusammenhang mit dem Nazismus und dem Elend des Zweiten Weltkriegs denken.“ S. 103

Das Buch liefert eine Historie der bildnerischen Darstellung kriegerischer Gräuel, ihrer Wirkung und der kritischen Auseinandersetzung damit. So revidiert Sontag einige Aussagen, die sie 1978 in ihren Essays „Über Fotografie“ (S. Fischer) getroffen hatte. 2003, dem Jahr, in dem das hier besprochene Buch erschien, erhielt Susan Sontag in der Frankfurter Paulskirche den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ verliehen. Mich hat seit Jahren kein Buch mehr so tief getroffen wie dieses.


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01.12.2023 19:36
#2
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Ich halte mich nicht für sehr empfindlich, aber ich glaube, dieses Buch könnte ich mir nicht u Gemüte führen.


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02.12.2023 06:53
#3
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Streckenweise war ich wie gelähmt angesichts der Aktualität des Textes. Wie klar sie die wechselseitige Wirkung von Darstellung und Propaganda erkennt und beschreibt, ist frappierend. Der Irrsinn des Krieges scheint unüberwindbar, eine zutiefst deprimierende Einsicht.

Wir bewegen uns in einer Endlosschleife.


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