Andrea Giovene: Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero – Ein junger Herr aus Neapel

27.10.2022 16:41
#1
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Neapel, vor dem 1. Weltkrieg. Giuliano ist der jüngste Sohn eines alten Adelsgeschlechts, die Sanseveros haben einen Jahrhunderte zurückreichenden Stammbaum. Doch der frühere Glanz ist verblasst, der Großteil des Vermögens verbraucht. Gemeinsam mit seinen drei Geschwistern verbringt er seine Kindheit in einem bröckelnden Palazzo, vor dessen Türen sich die Häuser der Armen drängen. Als Giuliano, der sich für Bücher und das Schreiben interessiert, sich nicht so entwickelt, wie es sich sein Vater vorstellt, kommt er in ein katholisches Internat, in dem strenge Zucht und Ordnung herrschen. Dann bricht der Weltkrieg aus, was die Familie in weitere finanzielle Schwierigkeiten bringt. Nach dem Krieg beendet Giuliano die Schule, wird von seinem Vater zum Studium der Bautechnik gezwungen und gegen seinen Willen zum Geschäftsführer des familieneigenen Bauunternehmens gemacht. Er erkennt bald, dass durch die Verschwendungssucht des Vaters der Ruin droht. Giuliano entschließt sich zu einem drastischen Schritt und verlässt die Familie. Und langsam übernehmen in Italien die Faschisten die Macht.

Andrea Giovene konnte für seine fünfbändige „Autobiographie des Giuliano de Sansevero“ in vollen Zügen aus der eigenen Biographie schöpfen, denn sein Leben wies zahlreiche Parallelen zu dem seines Helden auf. Der Roman, der zwischen 1966 und 1970 erschien, war ein durchschlagender Erfolg, Giovene für den Nobelpreis nominiert. Und doch ist das Werk bisher nicht auf Deutsch erschienen. Dem Verlag Galiani Berlin ist zu danken, diesen modernen Klassiker der italienischen Literatur nun in der eleganten Übersetzung von Moshe Kahn zugänglich zu machen (der zweite Band ist bereits erschienen, die weiteren Bände folgen in jeweils wenigen Monaten Abstand).

Oberflächlich betrachtet weist der erste Band mit seiner Thematik des Niedergangs des italienischen Adels starke Ähnlichkeit mit Lampedusas „Leopard“ auf. Aber anders als Don Fabrizio hält Giuliano nicht an der Vergangenheit fest, er wagt den Schritt in eine andere, ungewisse Zukunft. Wenn man denn Vergleiche ziehen will, drängt sich eher Proust auf: Giovene entwirft ein feinfühliges Porträt der Gesellschaft, ihrer (Un)Sitten und überkommenen Gebräuche und einer Familie, die viel zu sehr damit beschäftigt ist, dysfunktional zu sein, um zu bemerken, was um sie herum geschieht – auch Giulianos Sensibilität und Neigung zur Introspektion sei hier erwähnt. Im Hintergrund erzählt Giovene Zeitgeschichte aus der neapolitanischen Perspektive: der 1. Weltkrieg, die Wirren, die zum Aufstieg von Mussolinis Schwarzhemdem führten. Eine wirklich schöne Neuentdeckung, die sehr zu empfehlen ist.


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26.01.2023 16:14
#2
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Eine ebenso positive Rezension ist heute in der TAZ erschienen. Hier der Link dazu:

https://taz.de/Romanzyklus-aus-Italien-e...utsch/!5911321/


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