Ralph Dutli: Mandelstam. Eine Biographie.

26.04.2023 14:21
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Dutli ist Herausgeber und Übersetzer der 10bändigen Gesamtausgabe Ossip Mandelstams, die umfangreiche Biographie bildet den Abschluss des Projekts.

Selten sind Werk und Biographie eines Autors so eng ineinander verzahnt, wie es bei Ossip Mandelstam (1891 - 1938) der Fall gewesen ist. Ralph Dutli gelingt es auf meisterhafte Weise, diese Verzahnung nachzuweisen, indem er die Gedichte Mandelstams in einen unmittelbaren Zusammenhang zu konkreten Lebenssituationen stellt. So entsteht eine Art Werkbiographie, die erheblich zum Verständnis der Lyrik Mandelstams beiträgt.

Der familiäre Hintergrund, Mandelstams frühe Reisen und Studienaufenthalte in Frankreich, der Schweiz und Italien bis zum Studium der Romanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg, bilden die Grundlage für erste Veröffentlichungen Mandelstams in der Petersburger Kunstzeitschrift „Apollon“. Die lebenslange Verbindung mit Anna Achmatowa beginnt in dieser Zeit, als er sich literarischen Vereinigungen anschließt und sich an der Gründung des „Akmeismus“ beteiligt.

Der Erste Weltkrieg, die Revolution, die zur Gründung der Sowjetunion führt und die Wirren der ersten Jahre danach, stürzen den Dichter in innere und äußere Konflikte, die sein weiteres Leben bestimmen werden.

Sympathien mit den Sozialrevolutionären, Verhaftung auf der Krim als „sowjetischer Spion“ durch die „Weißen“, Freilassung, erneute Festnahme durch Menschewiken, die ihn der Unterstützung der Konterrevolution verdächtigen, Terror, Erschießungen, Mandelstams unstetes Leben wird von nun an nur noch kurze Unterbrechungen finden.

Aber er lernt in diesen apokalyptischen Verhältnissen seine spätere Frau Nadeschda kennen, mit der er die nächsten 20 Jahre Krisen, Krankheit, Verfolgung und Armut teilen wird. Ihr verdanken wir, dass sein Werk im heute bekannten Umfang erhalten geblieben ist.

Dutli beschreibt die größer werdende Distanz Mandelstams zur sowjetischen Gesellschaft, die sich in seinem Werk niederschlägt, was Verdächtigungen und Benachteiligungen zur Folge hat. Arbeit ist schwer zu finden und ist auch immer nur von kurzer Dauer. Mandelstam betätigt sich als Übersetzer, um überleben zu können. Durch die Einflussnahme Bucharins (der später dem stalinistischen Terror zum Opfer fallen wird) erscheinen immer wieder mal Gedichte oder Essays von ihm, unter den Literaten des Landes hat er sich einen guten Ruf erworben (so sie nicht dem sowjetischen Realismus huldigen), aber er steht unter Beobachtung. Verhöre, Austritt aus der offiziellen Schriftstellervereinigung und dann das Antistalingedicht, das ihm zum Verhängnis werden wird. Er trägt es im Freundes- und Bekanntenkreis vor, eine Niederschrift gibt es aus Vorsichtsgründen nicht. Die wird er erst nach seiner Verhaftung 1934 im Lauf des Verhörs anfertigen. Er erleidet psychotische Anfälle, die sich bis in die dreijährige Verbannung hinziehen, zu der er verurteilt worden ist.

1938 erneute Verhaftung, Mandelstam ist schwer krank, Verurteilung zu 5 Jahren Arbeitslager wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“. Am 27. Dezember 1938 stirbt Mandelstam während einer Flecktyphus-Epidemie in einem sibirischen Lager nahe Wladiwostok*.

Dutli widmet ein Kapitel Nadeschda Mandelstam und ihrem unermüdlichen Wirken für seine Person und sein Werk. Ein abschließendes Kapitel befasst sich mit dem Nachleben des Werks und seiner zunehmenden Bekanntheit. Außerhalb der Sowjetunion war die Bedeutung der Lyrik Mandelstams lange unbekannt oder unterschätzt. Literaturverzeichnis, Zeittafel und eine Auflistung mit Stimmen bedeutender Autoren zum Werk Ossip Mandelstams beschließen den Band.

*Warlam Schalamow ist zur selben Zeit in einem Arbeitslager in der Kolyma-Region interniert, in das Mandelstam ursprünglich auch deportiert werden sollte.


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